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Mamablog-Redaktion am Freitag den 10. August 2012

Leben mit einem Kind mit Downsyndrom

Eine Carte Blanche von Ildiko Ketteler-Boeselager*
Ik und Bela Griechenland 2010
«Ich könnte platzen vor Glück»: Die Autorin Ildiko Ketteler-Boeselager und ihr Sohn Béla in Griechenland 2010. (Bild: zVg)
Morgens ist Béla immer der Erste. Im Halbschlaf höre ich, wie die Klinke quietscht, weil sie langsam runtergedrückt wird und dann, taps, taps, taps, nackte Füsse auf dem Dielenboden. «Mami, kuscheln», flüstert er mit seiner tiefen Stimme und dann schiebt sich ein warmer kleiner Körper unter meine Bettdecke. So anschmiegsam und zärtlich wie Béla sind seine beiden Schwestern nicht. Ganz sacht legt er seine Hand auf meine Wange, als wäre er der Grosse von uns beiden. Ich könnte platzen vor Glück und Liebe in diesem Moment und ich versuche ihn festzuhalten. Er dauert nämlich nicht lange: «Mami! Kommst etz! Essen!», brüllt es in mein Ohr und der Tag beginnt.
Mein Sohn kommt morgens selbstständig (!) in unser Zimmer, klettert (!) in mein Bett, kuschelt (!) ein bisschen und sagt (!) dann, dass er frühstücken will. Und ich bin glücklich (!) mit ihm und liebe ihn über alles (!). Wie eben jede Mutter ihr Kind liebt. Ganz normal. Oder? Béla hat aber das Downsyndrom. Und deshalb hat jeder dieser Teilsätze scheinbar sein eigenes Ausrufezeichen verdient.
Gerade haben wir Bélas fünften Geburtstag mit einer wilden Indianerparty gefeiert. Er ist ein hübscher blonder Junge, der für Eis und Würstchen fast alles tun würde. Er liebt Pferde, Autofahren und Musik und hat einen Charme, den er allen Menschen zukommen lässt, ob er sie kennt oder nicht und dem sich selten jemand entziehen kann. Regelmässig enden seine Begegnungen im Restaurant oder in der Fussgängerzone mit einem netten Gespräch unter Unbekannten. Fast immer aber zaubert er ein Lächeln in die Gesichter wildfremder Menschen.
Er kann sich auch trotzig auf dem Fussboden der Drogerie wälzen. Er kann auch schreien und so laut weinen, dass man denkt, es ginge um Kopf und Kragen, nur weil er das Eis eben nicht bekommen hat. Ich fahre mit ihm jede Woche zur Logopädin und er muss öfters zum Arzt als meine beiden Töchter. Jetzt suchen wir eine Schule für ihn und das ist nicht so einfach wie die Integration im Kindergarten.
Ja. Manchmal mache ich mir Sorgen. Manchmal bin ich traurig, dass er nicht alles so selbstverständlich kann. Wir sind plötzlich viel abhängiger von anderen. Wird er akzeptiert? Wird er geliebt? Auch von anderen? Uns begegnet aber auch viel mehr Freundschaft, viel mehr echte Beziehung als vor seiner Geburt. Wir haben eine ganz neue Kategorie von Freunden, die wir ohne Béla nicht hätten.
Und nun? Was heisst das? Ich könnte noch ewig weiterschreiben und die Vor- und Nachteile des Zusammenlebens mit einem Menschen aufzählen, dessen Existenz zukünftig vielleicht noch exotischer sein wird als heute. Pro und Contra. Die moderne Pränataldiagnostik legt uns nahe abzuwägen. Sie verkauft uns das möglichst komplette Wissen über den ungeborenen Menschen als eine Art notwendige Grundlage für eine verantwortliche Entscheidung. «Sie müssen entscheiden», heisst es dann bei Auffälligkeiten. Sie müssen! – Und wenn ich nicht entscheiden will?
Pro oder contra Béla? Was ist mehr wert? Kann sein umwerfendes Lachen seine Sprachverzögerung wettmachen? Kann seine Zärtlichkeit gutmachen, dass er noch nicht trocken ist? Wiegt seine Freude am Leben auf, dass er dafür mehr Unterstützung braucht? Ist das legitim? Können wir noch in den Spiegel schauen, wenn wir das Lebensrecht eines Menschen von einer solchen Bewertung abhängig machen? Sehen wir da im Spiegel denn einen Menschen, der einer solchen Abwägung standhielte? Sind wir wertvoll und perfekt genug? Haben wir uns unser Daseinsrecht schon verdient?
Mit neun Wochen wurde Béla am Herzen operiert. Wir hatten vor seiner Geburt keine Kenntnis von der Trisomie und der schwere Herzfehler ist trotz Organultraschall nicht aufgefallen. Wir steckten also mittendrin in der Verarbeitung der Erkenntnis, dass unser Kind behindert ist. Wir waren total aus der Bahn geworfen deshalb. So hatten wir uns das nicht vorgestellt und wir hatten riesige Angst vor der Zukunft. Hätten wir damals doch bloss gewusst, wie viel Spass das Leben mit Béla macht!
Mitten in dieser Krise mussten wir unser winziges Baby an die Schwelle zwischen Leben und Tod bringen, um es zu retten. Neun Tage lang blieb Béla nach der OP im künstlichen Koma. Er wollte nicht atmen. An dieser Schwelle habe ich Béla angenommen, so wie er war. An dieser Stelle habe ich erkannt, was für ein riesiges und gar nicht selbstverständliches Geschenk er ist. Nichts war mehr wichtig, ausser meiner Liebe zu ihm, die sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn lebendig zurückzubekommen.
Liebe kann man nicht messen, nicht abwägen. Das Glück auch nicht. Man kann es erkennen und geniessen, wenn es da ist. Man kann es finden, wenn man sich ihm öffnet. Man kann sich nicht anhand irgendwelcher Daten dafür oder dagegen entscheiden. Aber ich behaupte, dass es sich lieber dort niederlässt, wo Menschen Ja sagen. Zum Leben, zum anderen und zu sich selbst. Unabhängig von irgendwelchen Laboranalysen.
Mehr zu Béla und zum Leben mit Trisomie 21: http://www.bela-loewenherz.de
*Ildiko Ketteler-Boeselager ist 38 Jahre alt. Sie ist Mutter von Emilia (6), Béla (5) und Leyla (3). Zudem hatte sie noch eine kleine Tochter, Valentina, die im vergangenen Jahr zwei Tage nach ihrer Geburt an Anencephalie starb. Ildiko Ketteler-Boeselager und ihr Mann erfuhren in der 14. SSW von der schweren Fehlbildung und machten sehr intensive Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik und ihren Folgen. Dazu sagt sie heute: «Kinder mit Downsyndrom werden verrückterweise genauso selten ausgetragen wie Kinder mit Anencephalie. Tragisch, wo sie so ein schönes Leben haben und andere so glücklich machen können. Béla hat uns bei der Entscheidung für Valentina sehr geholfen. Und wir haben sie keine Sekunde bereut.»

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Down-Syndrom: "Druck auf Schwangere ausgeübt"

Die Pränataldiagnostik macht es möglich: Die detektivische Suche nach genetischen Störungen wie dem Down-Syndrom bei Ungeborenen. Ildikó von Ketteler hat keinen Test gemacht - und ist heute Mutter des zweijährigen Béla, der ein Zusatzchromosom hat. NetDoktor.de sprach mit ihr.
Chromosomen, Down-Syndrom, Pränataldiagnostik, Ungeborene
© GettyImages
Frau von Ketteler, seit kurzem gibt es eine Mindestbedenkzeit bei späten Abtreibungen: Wird beim Ungeborenen etwa ein Down-Syndrom entdeckt, muss die Frau drei Tage mit dem Abbruch warten. Was halten Sie davon?
Finde ich gut! Oft üben Mediziner einen ziemlichen  Druck auf die Schwangeren aus, damit es mit der Abtreibung schnell geht. Ich kenne Frauen, denen noch für den Tag der Diagnose ein Termin zum Schwangerschaftsabbruch vorgeschlagen wurde. Die hatten keine Zeit zu überlegen, worum es da überhaupt geht.
Könnte die  Zwangspause die Zahl der Abtreibungen in solchen Fällen senken?
Das muss man abwarten, ganz so einfach ist es nicht. Zunächst einmal müssen die werdenden Eltern kompetente Hilfe an die Hand bekommen, mit denen sie diese Zeit gut nutzen können, denn drei Tage sind auch nicht viel in einer solchen Situation. Die Gesetzesänderung verpflichtet die Ärzte ja auch, die Frauen ergebnisoffen zu beraten. Ich hoffe sehr, dass sie die Schwangeren ermuntern, einen Menschen mit Down-Syndrom und seine Familie aus der Nähe kennenzulernen!  Das könnte einige schwangere Frauen vor einer Abtreibung bewahren. Und einige Babys natürlich erst recht.
Es gibt aber Paare, die sich den Alltag mit einem behinderten Menschen nicht zutrauen.
Ja, natürlich! Es ist auch nicht leicht. Aber ich glaube, dass viele sich nicht trauen, weil sie eben nicht wissen, wie sich dieses Leben mit einem behinderten Kind  "von innen"  anfühlt. Ich kenne sehr viele Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, die genau deshalb froh sind, dass sie davon in der Schwangerschaft nichts wussten. Bei uns hat die konkrete Erfahrung mit Béla auch bewirkt, dass wir uns bei unserem dritten Kind ganz bewusst gegen jede Pränataldiagnostik entschieden haben, die nicht der Gesundheit des Kindes diente.
Wenn man aber sicher ist, dass man es sich nicht zutraut, gibt es ja noch die Möglichkeit, das Kind zur Adoption freizugeben. Auch das sollte in den Beratungsgesprächen besprochen werden. Ich kenne sehr glückliche Familien, die sogar mehrere Kinder mit Down-Syndrom adoptiert haben - eine super Lösung für alle Beteiligten.
Alles ist besser als eine Abtreibung - sehen Sie das so?
Ich würde nie einem Paar Vorwürfe machen, dass es sich in dieser sehr schwierigen Situation gegen sein Kind entscheidet. Aber es tut mir wahnsinnig leid, ich hätte ihnen so gerne gesagt: Ihr hättet euer Kind total geliebt und habt eine positive Lebensvariante eingetauscht gegen das Trauma, das so oft einer Abtreibung folgt. Viele Frauen trauern jedes Jahr am Datum des Abbruchs und des errechneten Geburtstermins sehr um ihr Kind und sind dabei sehr allein. Da nehme ich hundert Mal lieber den anstrengenderen Alltag in Kauf und freue mich, dass ich mein wunderbares Kind lieben darf!
Dennoch ist die Angst vor einem Leben mit einem behinderten Kind oft zu groß.
Gerade das Down-Syndrom ist wie ein Phantom, vor dem viele eine echte Panik haben. Viele Leute haben noch Bilder von Betroffenen im Kopf, wie es sie etwa vor fünfzig Jahren gab - es ist erstaunlich, was da an Büchern und Infomaterial noch im Umlauf ist. Die Schwangeren haben also oft Angst  vor etwas, was es so gar nicht mehr gibt.
Das merke ich immer wieder, wenn ich in Schwangerschaftsforen im Internet unterwegs bin. Jeden Tag laufen da zwei, drei panische Schwangere auf mit der Meldung: Oh Gott, die Nackenfaltenmessung zeigt, mein Kind hat vielleicht Down-Syndrom.
Antworten Sie auf solche Beiträge?
Ja, und ich schreibe auch aktiv, weil da einfach viel Aufklärungsbedarf besteht - nicht nur darüber, wie das Leben mit einem Kind aussieht, das Down-Syndrom hat, sondern auch was den Zweck der Pränataldiagnostik betrifft. Tatsache ist: Ein großer Teil dieser Tests ist auf Auslese ausgerichtet, was vielen gar nicht bewusst ist. Nackenfaltenmessung und andere Untersuchungen werden gemacht, um gewisse Abweichungen herauszufinden, sodass man dann die Möglichkeit hat, die Schwangerschaft abzubrechen.
In dieser Klarheit wird Schwangeren das aber selten kommuniziert.
Genau, die Frauen bekommen vielmehr das Gefühl vermittelt: Als "gute" Schwangere wählt man das Paket mit der größtmöglichen Sicherheit für sein Baby - also auch eine umfangreiche  Pränataldiagnostik. Letztlich haben viele gar nicht verstanden, dass diese Tests aber nur dann Sinn machen, wenn man die Schwangerschaft im "Ernstfall" abbrechen will. Andere Konsequenzen haben die Tests ja nicht - zumindest nicht beim Down-Syndrom: Man kann es weder heilen noch ändert es etwas für die Geburt, wenn man es vorher weiß.
Down-Syndrom, Bela
© Bela Löwenherz  Down-Syndrom - So viele Menschen wie möglich bezaubern
Aber die betroffenen Paare können sich seelisch darauf vorbereiten.
Eine betroffene Mutter hat mal gesagt: "Der beste Weg, sich auf ein Kind mit Down-Syndrom vorzubereiten, ist, es im Arm zu halten." Da ist viel Wahres dran, würde ich sagen. Da ist dieses Down-Syndrom eben kein abstraktes, alles bestimmendes Phantom mehr, sondern ich habe in erster Linie mein kleines Kind. Und mein Herz weiß dann schon, was zu tun ist: lieben!
Außerdem glaube ich, dass die wenigsten tatsächlich die Tests machen lassen, um die Zeit bis zur Geburt dann zur "Vorbereitung" zu nutzen. Das zeigt ja auch die Statistik, nach der 80 bis 90 Prozent der vorgeburtlich diagnostizierten Kinder mit Down-Syndrom in der Folge abgetrieben werden. Meist läuft es doch so: Man macht eine Nackenfaltenmessung - weil man ja eine gute Schwangere ist - und kriegt dann ein auffälliges Ergebnis.
Daraufhin macht die Frau den nächsten Schritt: Fruchtwasseruntersuchung - nur in der Hoffnung, dass der Verdacht widerlegt wird, und ohne sich konkret dem Gedanken zu stellen: Was, wenn mein Kind wirklich Down-Syndrom hat? Steht die Diagnose dann fest, ist die Schwangerschaft meist schon so weit fortgeschritten, dass viele Ärzte auf einen schnellen Entschluss zum Abbruch drängen.
Könnte es also Kinder mit Down-Syndrom bald nicht mehr geben?
Ich glaube schon, denn die Möglichkeit einer vorgeburtlichen Diagnose schiebt Frauen gewissermaßen die Verantwortung zu, wenn sie ein behindertes Kind bekommen. Das heißt, als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom kriegt man manchmal zu hören: Das wäre doch heute gar nicht mehr nötig, so ein Kind zu bekommen.
Das sind ganz gefährliche Tendenzen, die daraus hervorschimmern. Ich trau es mich fast nicht zu sagen, aber manchmal muss ich da schon ein bisschen an Deutschlands unrühmliche Vergangenheit denken.
Sie meinen die Selektion dessen, was lebenswert ist und was nicht.
Ja. Und dabei denken die meisten Leute gar nicht an das Kind, wenn sie abtreiben. Oder sie denken, sie tun es für das Kind, dann sind sie aber nicht richtig informiert. Gerade beim Down-Syndrom muss man sich eingestehen: Für mein Kind treffe ich diese Entscheidung nicht.
Sondern?
Mir scheint schon eher, für sich selbst. Aus Angst vor zu großen Beeinträchtigungen des eigenen Lebens. Ich habe mal in einem Internetforum von einer Frau gelesen, die sich gegen ihr ungeborenes Kind mit Down-Syndrom entschieden hatte. Sie schrieb, sie hätte zusammen mit dem Arzt beschlossen, "es gehen zu lassen, weil es für alle besser so ist".
Die arme Frau hat diese Formulierung wahrscheinlich von ihrem Arzt gehört und versucht die Situation so zu sehen, wie sie am besten damit umgehen kann. Das sei ihr auch unbenommen, aber da zeigt sich eine Sichtweise, die der Sache überhaupt nicht gerecht wird: Man hat das Kind nicht "gehen lassen", weil es gar nie gehen wollte! Man tut so, als hätte man es vor etwas Schlimmerem bewahrt, dabei leben Menschen mit Down-Syndrom genauso gern oder nicht gern wie Sie und ich.
Da sehe ich auch mein eigenes Kind angegriffen - wer abtreibt, findet ja, er könnte mit jemandem wie meinem Béla nicht leben. Oder noch schlimmer: Das Leben meines Kindes sei nicht lebenswert!
Sind Menschen mit Down-Syndrom also gesellschaftliche Außenseiter?
Für die Betroffenen hat unsere Gesellschaft von vornherein separate "Auffangbecken" organisiert. Sie gehen auf eine Sonderschule, werden dafür sogar jeden Morgen mit einem eigenen Bus abgeholt und irgendwohin gebracht. Die Nachbarskinder dagegen gehen ganz normal in die Grundschule. Die strikte Trennung zwischen "normalen" und behinderten Kindern beginnt also früh, und auch später ergibt sich meist kein Kontakt mehr.
In anderen Ländern drücken behinderte und nichtbehinderte Kinder längst gemeinsam die Schulbank.
Deutschland hinkt da total hinterher, obwohl viele Fachleute das bestreiten - auch solche, die in diesen sonderpädagogischen Einrichtungen arbeiten und bestimmt viel Herzblut in ihre Arbeit legen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Fachleute sind sicherlich engagiert und machen eine gute Arbeit. Aber ich glaube, sie tun sich schwer mit der Vorstellung, dass die Kinder auch in einer normalen Schule angemessen betreut werden könnten.
Es gibt nicht wenige wissenschaftliche Studien, die belegen, dass die gemeinsame Beschulung für alle Kinder einer Klasse von großem Vorteil ist. Vielleicht lernen dennoch einige wenige Kinder mit Förderbedarf in der Sonderschule sogar  ein bisschen mehr, wer weiß das schon  - aber macht sie das am Ende glücklicher? Und ist es auch für die Gesellschaft besser, wenn diese Menschen ihr ganzes Leben einen Sonderweg gehen und dafür von den "normalen" Leuten komisch angeguckt werden? Ich glaube beides nicht.
Was erwarten Sie von der Gesellschaft - mehr Toleranz?
Ja, denn davon profitieren beide Seiten. Daher bin ich ganz fest überzeugt: Wenn Kinder wie Béla die Chance hätten, so viele Menschen wie möglich zu bezaubern, dann wäre es für alle das Beste: Für ihn, für das Umfeld und für eine ganze Menge ungeborener Kinder.
Was sagen Sie Eltern, die ein Kind mit Down-Syndrom bekommen?
Ich würde sagen: Ja, es ist eine sehr schwere Situation, die sich niemand wünscht und man kann nichts daran ändern. Aber es lohnt sich, zuversichtlich zu sein. Wenn ihr euer Kind erst mal im Arm haltet, werdet ihr bald merken, dass ihr es auf keinen Fall mehr missen möchtet, dass ihr nicht alleine seid, dass ihr mit diesem Kind auch unendlich viele Geschenke erhalten habt - und dass es das Beste aus euch herausholen wird!

Frau von Ketteler, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte die NetDoktor.de-Redakteurin Martina Feichter.

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"Béla - einfach ein Super-Typ"

Ildikó von Ketteler hat drei Kinder – und das Mittlere ist etwas Besonderes: Der knapp zweijährige Béla hat Down-Syndrom und damit ein Chromosom mehr als andere Menschen. NetDoktor.de sprach mit ihr über den Alltag mit Trisomie 21


© Ildiko von Ketteler

Frau von Ketteler, als Sie mit Béla schwanger waren, haben Sie sich da Gedanken über eine mögliche Behinderung Ihres Kindes gemacht?
Gedanken schon, aber mein Mann und ich haben bewusst auf eine Chromosomenuntersuchung vor der Geburt verzichtet. Für uns war von vornherein klar: Wir nehmen alles so, wie der liebe Gott es uns schenkt – was natürlich total naiv war! Wir wussten ja nicht, was es wirklich heißt, ein behindertes Kind zu haben. Genau wie alle anderen werdenden Eltern sind wir davon ausgegangen, dass wir ein gesundes Kind bekommen.
Sie haben es also erst nach der Geburt erfahren?
Nicht sofort. Der Arzt hat uns nach der Entbindung nur gesagt, Béla hätte „vielleicht das Down-Syndrom, vielleicht aber auch nicht“ – und uns dann einfach nach Hause geschickt. Nichts weiter. Eine furchtbare Zeit für uns, weil wir nicht wussten, woran wir sind. Schließlich haben wir nach zwei Wochen entschieden, einen Chromosomentest machen zu lassen, um endlich Gewissheit zu haben.
Das Ergebnis war vermutlich ein Schock.
Naja, nicht wirklich, eher eine Erlösung. Natürlich habe ich erstmal geweint, es war wirklich schlimm, aber nichts im Vergleich zu den zwei Wochen vorher, die viel mehr von Angst und Unsicherheit geprägt waren. Damals hatte ich das Gefühl, ich hätte zwar ein Kind, aber doch nicht so richtig, weil nicht klar war, woran wir sind. Sich so richtig mit Béla befassen und ihn akzeptieren, so wie er ist, konnte ich erst, als die Diagnose feststand.
Sie haben Béla ja nie versteckt - wie haben Ihre Freunde und Bekannten reagiert?
Eigentlich positiv. Wir sind auch von Anfang an total offensiv damit umgegangen, haben die Geburtsanzeige zusammen mit einem langen Brief verschickt, wo wir es allen erklärt haben. Das hat vielen die Unsicherheit uns gegenüber genommen.
Viele hätten sonst vermutlich gezögert, Sie darauf anzusprechen.
Ja, wahrscheinlich, das glaube ich schon. Für Außenstehende ist es auch wirklich schwer, zu wissen, wie sie reagieren sollen. Auch ich reagiere ja immer ganz unterschiedlich. Etwa wenn meine Familie optimistisch ist und sagt: „Das ist doch alles nicht so schlimm!“. Da würde ich allen am liebsten an die Gurgel gehen und schreien: Ihr habt ja keine Ahnung, macht das erstmal selber durch, dann dürft ihr euch erlauben, das zu sagen!
Wenn aber jemand kommt und uns bedauert, dann sage ich: Sieh dir Béla doch an, er ist so süß und einfach ein Super-Typ. Da kann ich gar nicht zulassen, dass mich da irgendjemand bedauert.
Das klingt nach einer echten Zwickmühle. Was soll ein Außenstehender denn jetzt tun, wenn er mit Ihnen spricht?
Man kann das Down-Syndrom natürlich nicht ganz außen vor lassen und es schlichtweg ignorieren. Wenn andere so tun, als wäre nichts, ist das auch irgendwie komisch. Mein Tipp ist: Einfach offen sein – und fragen! Ich bin erstaunt, wie wenig die Leute wirklich fragen, zum Beispiel wie etwa der Alltag mit Down-Syndrom ist. Die trauen sich einfach nicht, dabei würde ich total gerne antworten!
In unserer Gesellschaft zählen nun mal Gesundheit, Schönheit und Erfolg. Ist für Menschen wie Béla da einfach kein Platz?
Das würde ich so nicht sagen. Aber in unserer Gesellschaft ist es nicht normal, anders zu sein: Wäre es in unserer Welt nicht so wichtig, dass jeder erfolgreich, wahnsinnig intelligent, schön und witzig ist, dann dürfte vielleicht wirklich jeder so sein, wie er will und wie er ist.
Béla wird aber in vielen Bereich nie ein Gewinner sein, das ist uns knallhart bewusst geworden. Er wird nie der Schnellste, Beste und Schlaueste sein. Da mussten auch wir als Eltern erst einmal umdenken und unseren Ehrgeiz ablegen.


© Ildiko von Ketteler

Sie haben ja auch noch zwei gesunde Töchter und können gut vergleichen. Wie normal ist der Alltag mit Béla? Die meiste Zeit ist unser Leben so wie in jeder anderen Familie auch. In der Hinsicht ist Down-Syndrom ja eine dankbare Behinderung: Béla ist ein wahnsinnig fröhliches, liebenswertes, lustiges Kind. Manchmal ist er sauer, manchmal traurig, manchmal macht er Blödsinn. Und wenn er etwas nicht will, brüllt er wie ein kleiner Löwe – und geht einem damit ganz schön auf den Geist! Insgesamt merkt man also nicht viel, solange kein gleichaltriges Kind daneben steht. Das Leben mit Béla ist also zu 90 Prozent ganz normal.
Und die restlichen 10 Prozent?
Das Besondere mit Béla ist, dass er häufiger krank ist. Das ist anstrengend, wir müssen mit ihm öfter zum Arzt fahren als etwa mit seiner Schwester Emilia. Down-Syndrom an sich ist ja keine Krankheit, sondern nur eine genetische Variante. Sie macht aber anfälliger für bestimmte Erkrankungen wie Herzfehler. Auch Béla musste schon mit neun Wochen am Herzen operiert werden. Was das betrifft, ist er jetzt gesund. Aber er hat sehr oft Atemwegserkrankungen, ebenfalls nicht selten bei Down-Syndrom. Mit der Zeit haben wir aber gelernt damit umzugehen - es kommt Routine auf.
Kinder mit Down-Syndrom profitieren von einer gezielten Förderung. Wie oft sind Sie hier auf Achse?
Wir fahren ein- bis zweimal wöchentlich zur Frühförderung, Logo- und Physiotherapie. Das kostet Zeit und damit es hilft, muss man es auch zuhause umsetzen. Das ist gewöhnungsbedürftig, dass man mit einem so kleinen Kind, mit dem man eigentlich nur kuscheln und spielen will, schon so ein richtiges Arbeitsprogramm hat!
Arbeiten statt Spaß haben – und wie findet Béla das?
Eigentlich gefällt es ihm ganz gut. Sonst könnte man das mit einem so kleinen Kind auch gar nicht machen. Man muss einfach alle Übungen spielerisch verpacken. Und da sich Kinder mit Zusatzchromosom genauso entwickeln wollen, wie jedes andere Kind auch, lernen sie wie verrückt – auch Béla!
Für Eltern ist das ja ebenfalls ein straffes Programm.
Klar, als Eltern stehen wir da schon ein bisschen unter Druck, ihn möglichst viel zu unterstützen. Uns ist bewusst, dass Béla nicht dieselben Chancen hat wie seine Schwestern – nach den Leistungsmaßstäben, die unsere Gesellschaft anlegt. Trotzdem wird es für ihn überlebenswichtig sein, so fit wie möglich zu sein, also lesen und schreiben zu lernen und Alltagsfähigkeiten, sodass er später vielleicht mal in einer betreuten WG leben kann. Um das zu erreichen, denke ich oft: „Ich muss unbedingt jeden Tag seine Übungen mit ihm machen!“ Und wenn ich das einmal nicht getan habe, liege ich abends wach im Bett und habe ein schlechtes Gewissen.
Weil Sie Angst haben, Béla die Zukunft ein Stück weit verbaut zu haben?
Ja, oder dass man nicht sein Möglichstes getan hat, um ein bisschen die Defizite, die da sind, für ihn auszugleichen. Und ausgleichen kann man einiges! Menschen mit Down-Syndrom können ja viel mehr als man früher gedacht hat. Das merken Mediziner jetzt langsam. Vor 20 Jahren hätte man sich kaputt gelacht, wenn jemand gesagt hätte, Menschen mit Down-Syndrom können lesen und schreiben lernen. Heute weiß man, es geht, zumindest bei vielen - wenn man es richtig anpackt! Und wer weiß, was noch alles möglich ist?
Das sieht man an Pablo Pineda: Der 34-jährige Spanier hat Down-Syndrom und gerade seine Lehrerausbildung an der Uni abgeschlossen. Dass Trisomie 21 nur selten mit schwerer geistiger Behinderung verbunden ist, wissen viele Leute gar nicht.
…und auch nicht, dass viele Dinge bei Down-Syndrom einfach nur anders funktionieren. Die Betroffenen können beispielsweise Gehörtes ganz schlecht speichern, haben aber ein sehr gutes visuelles Gedächtnis. Sie können daher viel leichter sprechen, lesen und schreiben lernen, wenn man den Unterricht entsprechend gestaltet.
Natürlich ist ein gewisses Maß an intellektueller Beeinträchtigung bei allen Menschen mit Down-Syndrom da, das lässt sich nicht schön reden. Mein Mann und ich finden das aber heute nicht mehr so wichtig.
Dass das eigene Kind nicht den gängigen Erwartungen entspricht?
Genau. Das ist eine der wesentlichen Veränderungen, die in uns vorgegangen ist und die ich auf keinen Fall missen möchte. Mit Béla wurde uns ein Spiegel vorgehalten mit der Frage: Was findest du eigentlich wirklich wichtig – Intelligenz, Erfolg im Beruf?
Und wie lautet Ihre Antwort?
Béla hat uns gelehrt, dass Dinge wie Hingabe an eine Sache, Liebe zwischen Menschen und Ehrlichkeit das Allerwichtigste sind. Und da haben Menschen mit Down-Syndrom mindestens die gleichen Chancen zu bestehen, wie alle anderen auch. Und was Glück angeht, haben sie auch die gleichen Chancen.
Das klingt als wären Sie ganz optimistisch, was Béla’s Zukunft betrifft.
Nicht immer. Ich mach mir bei all meinen Kindern Sorgen, was die Zukunft angeht. Das geht allen Eltern so. Die Zukunft ist nun mal ungewiss, man hat sie nicht in der Hand. Wir versuchen einfach, unsere Kinder so fit wie möglich zu machen, damit sie allen Widrigkeiten des Lebens gut begegnen können.
Und wie machen Sie das?
Ich webe ein wenig am gesellschaftlichen Geflecht und versuche, es positiv zu gestalten. Dazu gehört auch, dass ich mich aktiv in Communities und Internetforen einbringe, wo ich mich nicht nur selbst mal ausheulen kann, sondern auch versuche, anderen zu helfen. Das ist eine ganz andere, aber unglaublich schöne Herausforderung für Eltern. Und es ist ein völlig anderes Ziel, als man mit gesunden Kindern oft verfolgt: Lieber die Welt ein bisschen besser machen, als versuchen, sein Kind zu einem super „Lonely Cowboy“ zu erziehen – was bei Béla sowieso nicht klappen würde!
Frau von Ketteler, wir danken für das Gespräch!
Das Gespräch führte Martina Feichter, Redakteurin bei NetDoktor.de

Datum: 04.06.09

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Leserbrief im Spiegel

Eine Art kleines Wunder markiert den Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung, Pränataldiagnostik und Selektion.
Im April 2007, schwanger mit Béla im 7.Monat, sitze ich mit dem aktuellen Spiegel in der Badewanne und stosse auf einen Artikel über dieses Thema. Es trifft mich so unglaublich, daß ich mich noch tropfend und im Bademantel vor den Computer setze und in fünf Minuten, ganz aus dem Bauch heraus, den ersten Leserbrief meines Lebens verfasse.
Und: Nein, ich wusste nicht, daß ich ein behindertes Kind erwarte!  Ich hatte keine Ahnung, daß mich das Thema tatsächlich so höchstpersönlich angeht. Und: Nein, ich hatte noch nie vorher ein so brennendes Bedürfnis, Stellung zu beziehen. Wer hat das ausgelöst? Die Fügung? Der Zufall? Gott? Béla selbst?
In der nächsten Ausgabe fand ich zu meiner allergrößten Überraschung meinen Brief veröffentlicht...


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